Ihre Musik passt in keine bekannte Schublade, sie hat einfach etwas außergewöhnlich Außerirdisches, und vielleicht gerade damit ihre eigene Sparte geschaffen. Und dennoch, oder gerade deswegen, zieht die Musik von Tori Amos ihre Fans in ihren Bann, vor allem, wenn sie ihren berühmten Bösendorfer-Flügel bearbeitet, ihn "besteigt", wie es einmal ein Kritiker zu Beginn ihrer Weltkarriere nannte.
Nun ist sie mit fünfzehn neuen Songs wieder da, mit "Native Invader" legt sie bereits ihr 15. Studioalbum vor und ist darauf gut wie nie.
Waren die meisten ihrer Songs bisher rund drei oder vier Minuten lang, zählen solche kürzere Kompositionen fast schon zur Minderheit auf dem neuen Album. Gleich der erste Track, "Reeinder King", der zugleich ihre dritte Single-Auskopplung darstellt, ist satte sieben Minuten und sieben Sekunden lang. Dazu entwickelt der Song mit der Zeit eine Power, wie man sie länger nicht mehr bei der zierlichen Rothaarigen erlebt hat. Ein anderer Song, "Bang" ist über sechs Minuten lang, drei weitere schaffen es über fünf Minuten (das sehr relaxte "Broken Arrow", das verträumt-melancholische "Cloud Riders" und das geheimnisvolle und recht dramatische "Mary's Eyes"), die anderen sind bis auf zwei Ausnahmen über vier Minuten lang.
Egal, ob ihr Bösendorfer-Piano im Mittelpunkt steht, wie in "Reeinder King", oder schnarrende Gitarren wie in "Broken Arrow", ihre unglaublich starke, glockenhelle Stimme gleicht in ihren neuen Songs einmal mehr einer Offenbarung.
"Native Invader" hat, abgesehen bei "Benjamin" und "Climb", die Leichtigkeit und Fröhlichkeit aus dem Vorgänger-Album, "Unrepentant Geraldines", verloren, Zorn und Unmut sind in fast allen ihren Songs zu hören, in denen es, wie bei "Bang", sehr dramatisch zugeht. Das kommt, nach eigener Bekundung der Musikerin, vor allem durch zwei Ereignisse aus dem vergangenen Jahr. Zum einen hat sie sich auf die Reise durch die Smoky Mountains in North Carolina/USA begeben, um der Familiengeschichte ihrer Mutter, die zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte, wieder näher zu kommen. Zum anderen hatte die Wahl des US-Präsidenten Einfluss auf ihre Grundstimmung, sie hat rohe Gefühle zugelassen und aufgenommen, als sie ihre neuen Songs schrieb, sagt sie. Es geht um gefährliche Konflikte und unvorhersehbare Herausforderungen, wie steht es um die Zerstörung des Planeten, unserer Beziehungen und uns selbst? Die Selbstheilungskräfte, die die Erde hat, sollte uns dabei Vorbild sein, uns auch selbst heilen oder erneuern zu können.
Was recht kryptisch klingt, bringt sie mit voller Wucht in ihren neuen Songs unter. Davon konnten sich ihre Fans bereits bei der ersten Singleauskopplung, "Cloud Riders", wie auch bei der zweiten Single, "Up the Creek", überzeugen.
Wieder hat sie ihr Album im britischen Cornwall aufgenommen, und das eine Stunde, eine Minute und achtundfünfzig Sekunden laufende Album setzt wieder einmal neue Maßstäbe. Zwar ist wieder kein chartverdächtiges Material dabei, aber darauf kommt es Tori Amos schon längst nicht mehr an. Außerdem schafft sie den Sprung in die Charts sowieso, mit oder ohne eingängige Hitparadenplatzierungen, wie sie es immer wieder mit ihren neuen Alben bewiesen hat. Viel wichtiger ist es, ihre wundervollen, teils sehr dramatischen Melodien und ihre sozialkritischen Texte unterzubringen, für die sie weltweit verehrt und bewundert wird. Drei Jahre hat sie sich Zeit gelassen, "Native Invader" zu schreiben und aufzunehmen, und es hat sich jeder Tag des Wartens darauf gelohnt, denn mit diesem 15. Album hat sie ein neues Juwel präsentiert.
Gerade hat sie in Irland ihre Welttournee gestartet, die sie auch im September zu fünf Konzerten nach Deutschland führen wird, und die sie am 3. Dezember in Los Angeles beenden wird.
Mehr Tori Amos geht kaum!